Donnerstag, 13. September 2012

das loch

melissa sitzt im tangokeller auf einem samtroten sessel am rand der tanzfläche und schaut den tänzern zu. sie fühlt ein loch in ihrem bauch. hunger ist das nicht.

sie erinnert sich nicht an ihren vater. es gibt fotos von ihm, sogar fotos mit ihm und melissa. sie sitzt in einem rot-weiss-geringelten kleid auf seinem schoss und lacht, als habe er sie gerade gekitzelt. er schaut sie von der seite an mit einem liebevollen blick. ein anderes, wo sie ball spielen im garten. aber sie kann sich nicht an eine einzige situation mit ihm erinnern. da ist ihre mutter, immer unterwegs um die familie zu ernähren, ihr kleiner bruder, um den sie sich kümmern muss, während ihre mutter arbeitet, oma und opa und der schrebergarten. aber kein vater. sie erinnert sich nicht an seine stimme, wie er lachte oder sprach. sie erinnert sich nicht an seine hände, an seinen geruch. da ist nur ein grosses loch.
später dann, als sie schon ein teenager war, sieht sie ihn vor sich. er weicht ihr aus mit seinem blick, als schäme er sich. in ihrem verzweifelten versuch kontakt zu ihm herzustellen beginnt sie ihn zu beschimpfen. sie stehen in seinem grün-braunen wohnzimmer, seine neue frau steht im türrahmen und schaut aus ihrem karierten arbeitskittel. seine neuen kinder toben im garten, sie sind noch klein, annas halbgeschwister, bunt und fröhlich. so wie auch sie auf den fotos aussieht, froh und heiter, nur in ihrer erinnerung findet sie dieses gefühl nicht wieder.
der vater zieht sich immer weiter zurück, wird krank, hat gute ausreden warum er sie nicht sehen kann. und verschwindet ein zweites mal aus ihrem leben.
melissa hat drei geschwister. für ihren bruder ist sie mehr wie eine mutter, die anderen beiden kennt sie kaum. sie erinnert sich nicht an die liebe, die aus seinen augen strahlt, aber sie klammert sich an dieses foto. da ist sie doch zu sehen, die wärme die sie vermisste, wenn sie abends das essen für ihren bruder kochte, zum hundertsten mal spaghetti mit tomatensauce und niemand da, der sie in den arm nahm.

ein mann steht vor ihr und fordert sie zum tanzen auf. warme hände, weiche führung. er tanzt gut, er ist gross. starke schultern ziehen sie wie magisch an, aber als sie ihm ins gesicht schaut sieht sie diesen hunger in seinem blick. sie weiss worauf das hinausläuft. sex in dem sie nähe sucht und doch nur leere findet. am ende des stückes bedankt sie sich für den tanz und lässt den mann stehen. sie zieht ihre roten 9 cm absätze aus, schlüpft in ihre ausgelatschten turnschuhe und geht zu fuss nach hause. laufen, nur laufen. ihr leben lang läuft sie schon, durch wald und wiesen, durch städte und einmal um die halbe welt. wenn sie läuft, wenn sie in bewegung ist kann sie das loch fernhalten. dann spürt sie ihren atem, den wind, die geschwindigkeit ihrer schritte und alles ist gut.

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